Wie es begann
Die ersten medizinisch-philosophischen Fragen, die mein Interesse an der Medizinphilosophie bereits am Anfang meines Studiums in den 1960er Jahren geweckt haben, waren, ob der Mensch einen freien Willen hat, das Leib-Seele-Problem und der Krankheitsbegriff. Einige Jahre später lernte ich Probleme der klinischen Entscheidungsfindung als zusätzliche Probleme kennen, als ich 1968 meine klinisch-praktische Ausbildung begann. Da ich damals in West-Berlin lebte, also im freien Sektor des damals geteilten Berlins, war ich bei den Stationsvisiten regelmäßig Zeuge der Diskussionen zwischen unserem Chef und unseren Oberärzten über ihre divergierenden Diagnosen und Behandlungsempfehlungen. Es war für mich als einen jungen Arzt überraschend und sogar beunruhigend, dass ich solche Unterschiede zwischen ihren klinischen Urteilen feststellen musste. Durch diese Beobachtung wurde ich zum ersten Male aufmerksam auf etwas, das unsere klinischen Lehrer uns während unserer medizinischen Ausbildung nicht gelehrt hatten, d.h. Methoden der ärztlichen Argumentation. Ärztliche Argumentation, auch klinische Entscheidungsfindung, diagnostisch-therapeutische Entscheidungsfindung und ärztliche Urteilsbildung genannt, steht im Mittelpunkt der ärztlichen Praxis und damit der Medizin. Obwohl wir als Medizinstudenten große Teile der Naturwissenschaften wie Chemie, Physik und Biologie, der biomedizinischen Wissenschaften wie Anatomie, Physiologie, Biochemie, Pathologie, Pathophysiologie und viele klinische Disziplinen, Krankheiten, Therapien und Methoden zur Diagnostik und Behandlung individueller, spezifischer Krankheiten wie Gastritis, Leukämie oder Schizophrenie gelernt hatten, hatten wir nichts davon gehört, wie man nach einer Diagnose und Behandlung im Allgemeinen sucht, d.h. wie man zu einem ärztlichen Urteil kommt. Ich habe mich gefragt, ob es eine wissenschaftliche Methodologie der ärztlichen Urteilsbildung gibt, die unsere Lehrer uns vorenthalten haben, und wenn ja, wie sah sie aus? Meine umfangreiche Suche war enttäuschend. Es zeigte sich, dass es keine solche Methodologie gab. Seitdem beschäftige ich mich mit diesem Thema und habe festgestellt, dass es sich dabei um eine Vielzahl von höchst interessanten sprachlichen, methodologischen, logischen, erkenntnistheoretischen, moralischen und metaphysischen Fragen und Problemen handelt. So widme ich mich seit 1970 der Forschung auf folgenden Gebieten: der Sprache der Medizin, des ärztlichen Handelns, der medizinischen Erkenntnistheorie, der medizinischen Deontik, der medizinischen Logik, der medizinisch-künstlichen Intelligenz und der medizinischen Metaphysik. Einige Ergebnisse dieser langjährigen Untersuchung sind in dem Handbuch diskutiert worden, welches weiter unten vorgestellt wird.