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Medizintheorie

Der Gegenstand der Medizintheorie

Die Medizintheorie hat also medizinisch praxisrelevant zu sein. Dank dieser Zielsetzung lässt sich ihr Gegenstand leicht bestimmen. Das heißt, dass aus der Perspektive der intendierten Praxisrelevanz ihre Gegenstandsbestimmung einer rationalen Diskussion zugänglich ist und nicht mehr beliebig sein kann. Beispielsweise kann eine literaturwissenschaftliche Forschung, die sich mit dem Krankheitsbegriff oder dem Menschenbild in den Romanen eines Dichters beschäftigt, nach meiner Begriffsbestimmung nicht zur Medizintheorie gehören, auch wenn sie im weitesten Sinne eine medizingeisteswissenschaftliche Tätigkeit sein mag [1]. Die Medizintheorie ist keine praxisferne Geisteswissenschaft. Die Maximierung ihrer medizinischen Praxisrelevanz als ihr Ziel diktiert bereits ihren Gegenstand: Im Rahmen der Medizintheorie sind nur Gegenstände einer Untersuchung würdig, deren Untersuchung im Dienste dieser praktischen Relevanzmaximierung steht mit dem Zweck, zur Verbesserung des Umgangs mit dem leidenden Menschen und der Krankheit und Gesundheit beizutragen. Dazu gehören also im Großen und Ganzen:

  • der Homo patiens,
  • das ärztliche Handeln, sein Kontext und seine Folgen,
  • das medizinische Forschen, Erkennen und Wissen sowie das Medium, in dem sie stattfinden, d.h. die Sprache der Medizin,
  • das medizinisch-ärztliche Bewerten,
  • und "die letzten Dinge der Medizin", d.h. die medizinische Metaphysik.

In die Einzelheiten möchte ich hier nicht gehen. Eine detaillierte Darstellung und Auseinandersetzung findet man in meinem bereits genannten Lehr- und Handbuch der Medizintheorie [2].

Anmerkungen:

  1. Literatur, Literaturwissenschaft und die Beziehungen zwischen der Medizin und Literatur schätze ich außerordentlich. Davon unberührt bleibt die Tatsache, dass sie alle keine Medizintheorie sind. Man sollte die Grenzen zwischen Medizintheorie einerseits und der Produktion von schöngeistiger Unterhaltungsliteratur und ihrer Theorie andererseits nicht verwischen, wie es seit geraumer Zeit leider in den USA, und von dort imitiert und importiert, in den skandinavischen Ländern und den Niederlanden missbräuchlich unter dem Titel "Medical Humanities" geschieht. Ich rate von dieser medizinisch irrelevanten Papierproduktion und universitären Beschäftigungstherapie für arbeitslose Geisteswissenschaftler in Deutschland ab. Damit will ich selbstverständlich nichts gegen die Geisteswissenschaften und Geisteswissenschaftler gesagt haben, sondern ich weiß aus meiner Jahrzehnte langen Erfahrung, dass es einfach falsch und (auf neudeutsch) kontraproduktiv ist, wenn ein Medizintheoretiker nicht zugleich auch ein ausgebildeter Mediziner ist und das Fachgebiet, über das er philosophiert, hinreichend kennt und versteht. Eine Medizintheorie, der diese Grundvoraussetzung fremd ist und die der Medizin und dem Patienten nicht nützt, verdient diesen Namen nicht und ist unnütz. Wir können sie an unseren medizinischen Fakultäten nicht verkaufen und die Medizinstudierenden dafür nicht interessieren. Kein vernünftiger Fachbereichsrat wird sich dafür begeistern lassen und für derartig eigennützige Interessen Stellen und Mittel bewilligen. Das heißt, wer ein sinnvolles und moralisch vertretbares Fach namens Medizintheorie zustandebringen will, der/die muss auch wirklich Medizintheorie betreiben und den wissenschaftlichen Ansprüchen des einundzwanzigsten Jahrhunderts genügen. Forschungen und Publikationen, die die begrifflich-logischen, metatheoretischen und methodologischen Sorgen der Medizin nicht wahrnehmen und ihre Unvollkommenheiten nicht aus diesen Perspektiven zu verbessern suchen, sollten sich besser eines anderen Namens bedienen.
  2. Sadegh-Zadeh K. Handbook of Analytic Philosophy of Medicine. Springer, 2015. Siehe hier.